Die Arbeitswelt wurde nicht für introvertierte Menschen geschaffen. Der Alltag bedeutet Büros voller Menschen, Großraumbüros mit ständigem Lärm und Geplapper und jede Menge Besprechungen. Introvertierte Menschen brauchen andere Bedingungen, um ihre besten Leistungen zu erbringen. Ihre besonderen Eigenschaften anzuerkennen kann jedoch schlummernde Potenziale freisetzen und Zufriedenheit steigern.
Das Jahr 2020, mit seinem Stop-Go-Rhythmus von Lockdowns und Heimarbeit, hat eine Umkehrung des Schicksals für introvertierte Menschen bewirkt. Während extrovertierte Persönlichkeiten die ständige soziale Interaktion im Büro vermissen, haben introvertierte Menschen die Heimarbeit als Oase der Ruhe erlebt. Es eröffnete für sie die Möglichkeit zu denken – allein und ungestört.
Vereinfacht gesagt, liegt der Unterschied zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen darin, was eine Person als anstrengend empfindet und was sie belebt. Während Extrovertierte Energie aus Partys und sozialen Kontakten ziehen, empfinden introvertierte Menschen diese Dinge als anstrengend. Ein Brainstorming in einer Gruppe oder konkurrierender Lärm lässt sie fiebrig nach dem Ausgang suchen. Extrovertierte blühen beim Smalltalk auf, während introvertierte Menschen lieber tiefgründige Diskussionen führen. Zeit allein zum Nachdenken bedeutet für diese zurückhaltenden Leute eher Revitalisierung als Einsamkeit.
Wie introvertierte Menschen die Welt veränderten
Einige der wichtigsten Erfindungen in der Geschichte kamen davon, introvertierten Menschen die Ruhe zu gönnen, die sie brauchen. Isaac Newton war 1665 Student an der Universität von Cambridge, als die Beulenpest ausbrach. Die Universität schloss ihre Pforten und schickte die Studenten nach Hause, um sich vor der Krankheit zu schützen. Newton – selbst ein introvertierter Mensch – ging nach Hause nach Lincolnshire. Dort konnte er in aller Ruhe denken und reflektieren. Angeblich sah er dort den Apfel vom Baum fallen, dass zu seiner Theorie der Schwerkraft geführt hat.
Zu dem Kreis der Introvertierten zählen auch Microsoft-Gründer Bill Gates, der Physiker Albert Einstein, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und J. K. Rowling, Autorin der enorm beliebten Harry Potter Bücher. Die Zeit, die sie allein mit ihren Gedanken verbrachten, war auch für sie ein Motor der Kreativität.
Wie introvertierte Menschen in der Selbstständigkeit ihr Glück finden können
Als Mensch mit ausgeprägten introvertierten Tendenzen war der Alltag im Büro für mich immer ein Kampf. Ich fand den ständigen Smalltalk und die Meetings, in denen man ständig unter Druck stand etwas beizutragen, anstrengend. Und unfair. Meine natürliche Art, allein oder in einer kleinen Gruppe zu arbeiten, wurde nicht als „passend“ angesehen. Um eine gute Leistungsbeurteilung zu bekommen, musste ich mich verbiegen.
Ich bin fast per Zufall selbstständig geworden. Die Gründung von Spezialis Translations bedeutete, dass ich endlich so arbeiten konnte, wie es mir gefällt. Übersetzerin zu sein ist ein ziemlich einsames Unterfangen. Ich sitze den ganzen Tag alleine zuhause und starre in den Bildschirm, tippend. Auch wenn ich mir manchmal ein bisschen mehr Kontakt zu anderen Menschen wünsche, ziehe ich doch diese Arbeitsweise vor. Ich gleiche dann mein „Kontaktdefizit“ aus indem ich mich mit Freunden nach der Arbeit treffe.
Damit bin ich sicher nicht allein. Vielleicht bist du auch ein introvertierter Mensch, der bereits die Ruhe und den Frieden der Selbständigkeit genießt. Vielleicht nickst du jetzt, weil du dich auch in diesen Worten erkannt hast. Oder vielleicht bist du noch angestellt, hast dich nie an das Büroleben gewöhnen können und hast deshalb ein schlechtes Gewissen. Vielleicht wäre die Selbstständigkeit die bessere Lösung für dich? Ist es an der Zeit, ernsthaft über eine Veränderung deiner Arbeits- und Lebensweise nachzudenken?
Kümmere dich um deine introvertierten Mitarbeiter
Diese Überlegungen gelten auch für Unternehmer, die andere Leute beschäftigen. Menschen zu managen ist eine schwierige Aufgabe. Wenn der Stress groß ist, bleibt nicht viel Zeit, um über die Bedürfnisse jedes Einzelnen nachzudenken und darüber, wie man das Beste aus ihnen herausholen kann. Es könnte sich jedoch lohnen, ein bisschen Sensibilität für die Unterschiede zwischen extrovertierten und introvertierten Menschen am Arbeitsplatz zu entwickeln. So könntest du sogar Leistungspotenziale freisetzen, die deinem Unternehmen als Ganzes zugute kommen.
Hast du Mitarbeiter, von denen du weißt, dass sie hoch intelligent sind, aber in Gruppensitzungen nie ein Wort über die Lippen bekommen? Sei mal ehrlich – hast du dich deswegen schon einmal über sie geärgert oder weniger von ihnen gehalten? Es ist gut möglich, dass sie alle möglichen Antworten und Lösungen in ihrem Kopf herumschwirren haben, aber zu schüchtern sind, um sie vor anderen auszusprechen. Vielleicht würden Einzelgespräche diese introvertierten Menschen ermutigen, ihre Gedanken mitzuteilen?
Firmenfeiern und -ausflüge können auch für introvertierte Menschen problematisch sein. Obwohl die meisten von ihnen ein gewisses Maß an sozialen Kontakten brauchen, stoßen sie viel schneller an ihre Grenzen als Extrovertierte. Wenn sie die Party früh verlassen, dann liegt es daran, dass sie erschöpft sind und sich erholen müssen. Es liegt nicht etwa daran, dass sie asozial oder keine Teamplayer sind. Sei nicht böse auf sie!
Die Kraft von introvertierten Menschen nutzen
Introversion stellt keine Behinderung dar. Es ist einfach eine andere Art des Seins, die ihre eigenen Vor- und Nachteile hat. Wenn du selbst introvertiert bist, kann die Anerkennung und Akzeptanz deiner wahren Natur der erste Schritt zu dauerhafter beruflicher Zufriedenheit sein. Vielleicht führt dieser Weg in die Selbstständigkeit.
Wenn du Arbeitgeber bist, bedeutet das vielleicht, einen einfühlsameren, individuelleren Ansatz für bestimmte Mitarbeiter zu finden. Es ist möglich, dass Mitarbeiter, die früher zurückhaltend und unzufrieden wirkten, zu echten Leistungsträgern werden!
Weiterführende Literaturhinweise:
Quiet: The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking – Susan Cain
(Deutsche Version / Englische Version bei Amazon kaufen)
Caring For Your Introvert – Jonathan Rauch (The Atlantic, März 2003)
For Introverts, Quarantine Can Be a Liberation – Andreas Kluth (Bloomberg, Opinion, 28.03.2020)