Ralf Müller ist Geschäftsführer der Polyas GmbH, dem führenden deutschen Anbieter von digitalen Wahlsystemen. Die Firma hat eine Software für rechtsichere Online-Wahlen entwickelt, die Hochschulen, Unternehmen, Vereine, Kirchen und Kommunen nutzen, um ihre Wahlen abzuhalten.
20 Mitarbeiter in Berlin, Kassel und St. Gallen sind täglich damit beschäftigt, den Kunden den besten Service rund um Wahlen anzubieten. Polyas ist nicht nur in Deutschland und der Schweiz aktiv, sondern auch in Österreich, Italien, UK und vermehrt in Kanada und den USA.
Sehr geehrter Herr Müller, das Online-Wahlsystem Polyas wurde ursprünglich 1996 von Kai Reinhard und Wolfang Jung erfunden. Die erste Online-Wahl wurde in Finnland mit 30.000 Wahlberechtigten durchgeführt. Dann ist die Polyas Software-System für Online-Wahlen im Unternehmen Micromata weiterentwickelt worden. Schließlich haben Sie Polyas im Jahr 2012 gemeinsam mit 3 Geschäftspartnern ausgegründet. Warum haben Sie sich entschlossen Polyas zum eigenständigen Unternehmen zu machen?
Wir wurden überrascht, welchen Erfolg wir mit Online-Wahlen hatten. Irgendwann wurde es so groß, dass aus dem Projekt ganz natürlich ein eigenes Unternehmen wurde.
Die erste Online-Wahl wurde 1996 in Finnland durchgeführt.
War dies reiner Zufall oder war Finnland schon damals innovativer und offener für neue Technologien als andere Länder?
Ein bisschen von beidem. Wolfgang Jung, der Polyas erfunden hat, hatte Kontakt zu einem Mitglied des „allianssi“ – das ist der Dachverband der finnischen Jugendorganisationen. Die wollten eine Wahl abhalten – mit über 60.000 Wahlberechtigten in drei Sprachen. Ein großer Aufwand! Daher gab es Überlegungen, wie man das einfacher machen kann. Da kam Wolfgang Jung ins Spiel, der mit Polyas ein System entwickelte, mit dem der Verband diese Wahl einfacher absolvieren konnte – und zwar online.
Also es war einerseits Zufall, dass der Kontakt bestand. Aber allein die Tatsache, dass der Verband 1996 schon für eine Online-Wahl empfänglich war, ist bemerkenswert und zeugt von einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber technischen Innovationen in Finnland.
Wie kommt man auf die Idee, ein Online-Wahlsystem zu entwickeln? Welche konkreten Probleme im Wahlverfahren wollten Sie damit lösen?
Wie erwähnt wäre der Organisationsaufwand bei der „allianssi“ offline kaum zu stemmen gewesen. Bei so vielen Wahlberechtigten ist es schwierig, eine Präsenzwahl abzuhalten. Eine Briefwahl, die dazu die verschiedenen Sprachen abdeckte, wäre eine Kostenfalle geworden.
Außerdem ist eine Online-Wahl immer barrierefrei und ermöglicht somit auch allen im Ausland lebenden Wahlberechtigten und körperlich Beeinträchtigten problemlos an der Wahl teilzunehmen.
Die Herausforderung, vor der wir standen, war es den Wähler zu ermöglichen, orts- und zeitunabhängig zu wählen. Bei so vielen Wahlberechtigten war das notwendig, um die Wahlleitung organisatorisch zu entlasten. Darüber hinaus war es den Wahlveranstaltern wichtig, die Umwelt zu schonen – und dabei noch Geld zu sparen.
Kurz und knapp: Das Wahlverfahren sollte einfacher und allgemeiner gemacht werden. Nicht nur für den Wahlleiter, sondern auch für den Wähler, der für sein Recht auf Mitbestimmung nicht mehr große Strecken hinter sich bringen muss.
In welchen Bereichen kommen Online-Wahlen zum Einsatz?
Die Ursprünge des Polyas Online-Wahlsystems liegen im halbstaatlichen Bereich der Hochschulen und Kammern, in dem wir heute klarer Marktführer sind und pro Jahr über 100 Wahlen durchführen. Außerdem sind wir bei Unternehmen und Verbänden sehr aktiv.
Aktuell bereiten wir uns auf die ersten politischen Wahlen vor.
Wie stellen Sie bei Online-Wahlen sicher, dass das Wahlgeheimnis eingehalten wird und die Wähler zweifelsfrei identifiziert werden?
Jeder Wahlberechtigte im digitalen Wählerverzeichnis erhält seine Zugangsdaten, die aus einer ID und einem einmal-gültigem Passwort bestehen. Während die Wähler-ID ein festes personenbezogenes Merkmal ist, wie z.B. die Personal- oder Matrikelnummer, das Geburtsdatum oder auch die E-Mail-Adresse, wird das einmalig gültige Passwort von unserem System nach bestimmten Sicherheitsalgorithmen generiert.
Meldet sich der Wähler mit diesen beiden Daten am System an, registriert das Wählerverzeichnis die Anfrage und liefert einen Token aus (=Sicherheitsschlüssel), wenn der Validator zustimmt. Dann wird der Wähler vom System zur Wahl zugelassen und ist ab diesem Moment anonymisiert – die Zugangsdaten werden nicht weiter gegeben und der Wähler geht nur mit dem Token in die digitale Wahlkabine.
Nun wird der Stimmzettel angezeigt, die Stimmabgabe kann jederzeit unterbrochen und erneut begonnen werden. Erst wenn die Wahl verbindlich bestätigt wird, landet der ausgefüllte Stimmzettel in der Wahlurne und der Token wird gelöscht. Der Stimmzettel in der Urne enthält keinerlei personenbezogene Daten und der Token kann nicht erneut angefordert werden.
Gibt es sonstige Maßnahmen, die Sie gegen Wahlbetrug setzen?
Das Polyas-Wahlsystem ist so aufgebaut, dass alle Funktionen auf physisch und systemisch getrennten Servern laufen: So ist das Wählerverzeichnis von der Wahlurne komplett getrennt. Nur wenn der dazwischen geschaltete Validator zustimmt, können die fünf Schritte der Online-Stimmabgabe vollzogen werden.
Jedes Sub-System einer Online-Wahl kennt also nur einen Teil des Geheimnisses und kann nicht autonom agieren. Zusätzlich prüft das System ständig seine Integrität anhand der Prüfsummen, die bei Wahlstart vergeben werden. Würden das Wählerverzeichnis oder die Wahlurne von außen manipuliert, änderten sich diese Prüfsummen unweigerlich und das System meldet sofort einen Fehler. So können wir sicherstellen, dass keine Daten hinzugefügt, verändert oder gelöscht werden.
Das Wahlergebnis steht unmittelbar nach Ende der Wahlzeit fest. Die Wahlurne kann beliebig häufig ausgezählt werden, um das Wahlergebnis zu verifizieren.
Warum gibt es noch keine Online-Wahlen für Parlamentswahlen (zum Beispiel)? Mit welchen Herausforderungen haben Sie hier zu kämpfen und wie wollen Sie diese angehen?
Tatsächlich gibt es bereits Online-Wahlen bei Parlamentswahlen und zwar in Estland. Dort können die Bürger seit 2005 online wählen. In der Schweiz können in einzelnen Kantonen die Auslandsschweizer bereits online an den politischen Wahlen teilnehmen. Bis 2020 soll das in allen Kantonen der Schweiz möglich sein. In Kanada gibt es Bestrebungen 2019 politische Wahlen online durchzuführen. Online Wahlen als additiver Wahlkanal liegen absolut im gesellschaftspolitischen Trend und werden sich durchsetzen, weil es unser Leben einfacher und demokratischer macht.
Bei Parlamentswahlen in Deutschland sind Online-Wahlen bisher nicht möglich. Die Hauptschwierigkeit liegt in der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Öffentlichkeit von Wahlen. Obwohl diese Forderung auf einem Urteil aus dem Jahr 2009 basiert, ist es noch der aktuelle Orientierungspunkt für viele Institutionen. Dieses Prinzip verlangt, dass der Wähler ohne technisches Vorwissen nachvollziehen kann, wie seine Stimme verarbeitet wurde.
Dieses Urteil bezieht sich auf elektronische Wahlmaschinen, die 2005 bei der Bundestagswahl teilweise zum Einsatz kamen, wird aber auch auf Online-Wahlen angewendet.
Damit sind die Sicherheitsanforderungen an Online-Wahlen höher als bei den anderen Wahlkanäle, die man für die Bundestagswahl nutzen kann.
Aktuell gibt es insbesondere in der biometrischen Authentifizierung Forschungen, die dazu führen, dass noch bis wahrscheinlich zum Jahr 2020 diese Sicherheitsbedenken, wie auch viele andere Bedenken gegen elektronische Wahlen, technisch gelöst werden.
Sie haben das erste Online-Wahl-System weltweit, das eine BSI-Zertifizierung erhalten hat. Welche Vorteile hat eine solche Anerkennung für Ihr Geschäft bzw. Wettbewerbsfähigkeit? Was mussten Sie nachweisen, um diese Zertifizierung zu bekommen?
Um das BSI-Zertifikat zu erhalten, mussten wir nachweisen, dass wir die fünf Wahlgrundsätze (frei, allgemein, geheim, gleich, unmittelbar) bewahren.
- Konkret erfüllen wir also folgende Bedingungen:
- Von der abgegebenen Stimme darf keinerlei Rückschluss auf die Identität des Wählers herstellbar sein.
- Es darf dem Wähler nicht möglich sein, seine Wahlentscheidung gegenüber Dritten zu beweisen.
- Die Wahlberechtigten müssen für die Stimmabgabe eindeutig und zuverlässig identifiziert und authentifiziert werden, sodass nur registrierte Personen aus dem Wählerverzeichnis wählen können.
- Die Wähler dürfen jeweils nur einmal eine Stimme abgeben.
- Stimmen dürfen nicht während der Übertragung im Netzwerk verändert, gelöscht oder ergänzt werden.
- Stimmen in der Wahlurne dürfen nicht nachträglich verändert, gelöscht oder ergänzt werden.
- Zwischenergebnisse dürfen nicht berechnet werden.
Das BSI-Zertifikat vereinfacht in Deutschland die Diskussion rund um das Thema Sicherheit. Eine unabhängige, staatliche Zertifizierung ist viel aussagekräftiger als jeder Marketingtext.
In anderen Ländern ist das Zertifikat nicht so bekannt und somit von geringerer Bedeutung. Wir sehen immer wieder, dass für Kunden (besonders jene außerhalb Europas) die Vorteile der Online Wahl die datenschutzrechtlichen Bedenken überwiegen. Besonders in insularen oder spärlich bevölkerten Regionen ist die Briefwahl mit einem hohen logistischen Aufwand verbunden, an die Durchführung einer Präsenzwahl ist nicht zu denken. Überall dort ist die Online Wahl bereits heute eine Art „Heilsbringer“ für die Demokratisierung.
Mittlerweile sind Sie mit ihrem Unternehmen in 7 Märkten weltweit tätig. Welche Herausforderungen stellen sich, wenn Sie Ihr Produkt in anderen Ländern einführen möchten?
Wahlen sind ein sehr sensibles nationales Gut. Deswegen gibt es zum Teil Vorbehalte gegenüber einem ausländischen Anbieter. Diese Vorbehalte nimmt man am besten, indem deutlich gemacht wird, dass man sich mit den Wahlen vor Ort vertraut gemacht hat und sich auch auf die Besonderheiten einlässt. Das erfordert eine gründliche Vorrecherche und Investitionen Vorort in Infrastrukturen und Personal bevor man einen Markt betritt. Es ist zwingend notwendig, dass Sie sich mit den nationalen Wahlordnungen und der rechtlichen Situation intensiv befasst haben, bevor Sie eine Wahl durchführen.
Nur ein Beispiel: In vielen Ländern ist es gefordert, eine Wahlquittung zu ermöglichen. Das widerspricht den deutschen Wahlgrundsätzen. Wir als Unternehmen haben uns darauf eingestellt und entsprechende Tools für die individuellen nationalen Anforderungen entwickelt.
Außerdem ist es immer wichtig vor Ort Präsenz zu zeigen und Muttersprachler im Team zu haben. Sonst scheitert eine Internationalisierung an so etwas wie Zeitunterschiede oder Verständnisschwierigkeiten.
Insgesamt haben Sie drei Geschäftsstellen in Berlin, Kassel und St. Gallen. Warum haben Sie sich zu einer Strategie mit mehreren Standorten entschieden?
Die zwei Standorte in Deutschland sind tatsächlich „historisch“ bedingt. Wolfgang Jung, der unser System entwickelt hat, stammt von dort und auch Micromata hat seinen Sitz in Kassel. So waren die ersten Entwicklungsjahre von Polyas mit Kassel verbunden.
Als wir uns entschieden haben Polyas auszugründen, wurde deutlich, dass es aus vielereil Gründen Sinn ergibt, auch in Berlin präsent zu sein. Wir haben uns für eine Zweiteilung entschieden – in Kassel wird das Produkt entwickelt, in Berlin finden alle Kundenprozesse statt. St. Gallen war unser erster Schritt außerhalb Deutschlands. Für 2017 planen wir weitere internationale Büros in Kanada und Italien.
Welche Ziele verfolgen Sie für die Zukunft? Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich?
Wir verfolgen regional unterschiedliche Ziele. In Deutschland geht es darum, unsere Marktführerschaft zu festigen und mittelfristig auch politische Wahlen durchzuführen. International konzentrieren wir uns aktuell auf den Markteintritt in Kanada und Italien.
Im Produkt forschen wir an der technologischen Vereinfachung der Wählerauthentifizierung. Ein wichtiger Schwerpunkt unserer Forschung bildet außerdem die individuelle und universelle Verifizierbarkeit der Stimmabgabe. Hierzu gibt es bereits im Polyas-System Lösungen. Diese wollen wir ausbauen.
Denken Sie, dass in den kommenden Jahren mehr Wahlen mithilfe des Internets abgewickelt werden?
Ja. Es liegt im gesellschaftlichen Trend, dass alles, was digitalisiert und damit vereinfacht werden kann, auch digitalisiert wird. Das trifft selbstverständlich auch bei Wahlen zu.
Wir sehen bei den politischen Wahlen, dass immer mehr Leute zur Briefwahl greifen. Immer dann wenn wir diesen Wählern additiv die Möglichkeit der Online Wahl einräumen steigt die Chancen auf eine erhöhte Wahlbeteiligung und der Anteil der Briefwähler sinkt zugunsten der Online Wahl. Es ist also Bedarf für eine zeit- und ortsunabhängige Stimmabgabe da. Diesen Bedarf werden wir erfüllen.
Website: www.polyas.de
Titelfoto Wahlurne von: Wikipedia / Rama